2017/18: Von Narren und Buffonen

In den Jahren 2017 und 2018 führte der Theater Vision e.V. ein europäisches Bildungsprojekt in der Sparte Erwachsenenbildung im Rahmen von Erasmus+ mit den Mitarbeiterinnen des Theater Vision e.V. durch.

Uralte Theatertraditionen haben sich über die Jahrhunderte fortgesetzt und je nach Landverschieden entwickelt. Während sich der Clown auch in Deutschland großer Beliebtheitbei Jung und Alt erfreut, sind die historischen Figuren des Fools/Narren und des Buffonen hierzulande fast gänzlich unbekannt.
Um dies zu ändern, hat der Theater Vision e.V. seine Mitarbeiter, die auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung (Trainer, Theaterpädagogen, Workshopleiter) tätig sind, in das Partnerland England entsendet, um sie in den vorgeschlagenen Methoden zu qualifizieren.

Sie hatten hier die Chance, sich bei den herausragenden Theatermachern und erfahrenen Pädagogen Gerry Flanagan und Franki Anderson in den Bereichen „Buffonen“ und „Fool-der Archetyp“ fortbilden zu lassen.

Förderer

 

Buffonen in Tansley bei Gerry Flanagan

„Die Kraft des Humors – Buffonen“: ein Bericht

Vom 26.11.2017 bis zum 02.12.2017 fand die erste von 2 Schulungen für die freiberuflichen Mitarbeiterinnen des Theater Vision e.V.’s statt.

Die 6 Freiberuflerinnen, die in der Allgemein- und Erwachsenenbildung insbesondere im Bereich von Humorfortbildungen, Theatervermittlung, Theaterpädagogik und im Coaching tätig sind, wurden zu dem langjährigen, exzellenten Pädagogen, Regisseur und Theatermacher Gerry Flanagan an dessen Wirkungsstätte, das Shifting Sands Theater http://www.shiftingsandstheatre.co.uk/ entsendet.

Gerry Flanagan ist einer der wenigen, die heute noch das uralte Erbe der „Buffonen“ praktizieren und weitervermitteln.

V.A. in Deutschland wissen viele gar nicht, was das ist – ein Buffon.
Und um ehrlich zu sein – auch die Teilnehmerinnen, die sich bis nach Matlock im grünen und allen Vorurteilen trotzenden, sogar Ende November mit schönsten Sonnenstrahlen erleuchteten Derbyshire begeben hatten und sich nun täglich 7 Tage lang von morgens bis abends in der Community Hall und der Village Hall von Tansley, dem Sitz des Shifting Sands Theater‘s, mit dieser hochspannenden Theaterform auseinandersetzen, wussten vorher nicht alle, was da auf sie zukam.

Folgerichtig stellte Gerry anfangs die Frage: „Was glaubt Ihr, was sind Buffonen denn?“

Herumstammeln, sammeln…
„Deformierte Gestalten“
„Wesen, die aus dem Jenseits kommen“
„ Parodie, Satire“
„Ausgestoßene, Verachtete“
„in Banden organisierte“…
„das hat was mit dem Mittelalter zu tun“
„die Gesellschaft auf die Schippe nehmen“

Gerry erklärte. Es gäbe zwei Arten von Buffonen – natürliche Buffonen, die gibt es im täglichen Leben, Menschen mit Lernschwierigkeiten, mit physischen und psychischen Einschränkungen und Behinderungen.
Und dann gibt es die anderen, die zwar keine solchen Einschränkungen haben, aber völlig verrückt sind. Sie nutzen ihre Verrücktheit und ihr Anderssein als Strategie.

Im Mittelalter waren es die Ausgestoßenen, die wegen Pest und Cholera vor die Tore der Stadt verbannt waren und nur an Zeiten des Karnevals hereingelassen wurden, um das Volk zu unterhalten.

Da wurde die Welt auf den Kopf gestellt, der König wurde zum Bettler und die Bettler zu Königen.
Die Buffonen machten Späße, aber sie provozierten dabei soweit, dass man schließlich nicht mehr wusste, ob das noch Spaß oder schon bitterer Ernst war.
Na, wollen wir den König mal foppen?“
Das Volk: „Jaaa“
„Ja, wollen wir ihn
an den Ohren ziehen?“
„Jaaa“
Gesagt, getan.
„Wollen wir ihn anspucken?“
„Jaa“ schon etwas leiser“
Gesagt, getan.
„Schlagen?“
„Ja“ schon sehr leise
Gesagt, getan.
„Umbringen?“
Stille

Auch im Alten Griechenland und zur Römerzeit gab es diese Phänomene.

Buffonen sind Strategen. Wenn sie hereinkommen,müssen sie sich die Gunst des Publikums erwerben, sich die Erlaubnis erspielen, um bleiben zu dürfen. Man stelle sich die Tore der Stadt vor und nach Monaten dürfen die Ausgestoßen herein kommen. Da kann man natürlich nicht mit den irritierendsten Spielchen beginnen. Der Anfang ist harmlos, spielerisch, kleine Neckereien, die darauf abzielen, gemocht zu werden und um später vielleicht ein paar Almosen und Geld zu bekommen.

Buffonen sind brilliant darin, Spiele zu spielen. Es ist schwer zu begreifen, was davon wirklich ist und was nicht. Sie sind unglaubliche Überlebenskünstler. Sie sind immer die Verdächtigen, die Geächteten, die, die am Wenigsten von Allen haben, die von einer Krumme Brot am Tag leben. Darum haben sie nichts zu verlieren. Und können alles wagen.

Buffonen sind selten allein. Sie verbindet eine natürliche Komplizenschaft, dadurch, dass sie in der gleichen, erniedrigten Situation sind. Darum kommen sie in Banden und auch, wenn sie in ihren Spielen grausam zueinander sein können, Hierarchien aufbauen, sich schlagen und erpressen, wissen sie, dass sie zusammengehören und im Kontrast zum Rest der Welt stehen.

In dieser höchst intensiven und arbeitsreichen Woche (danach, so der Konsens, wäre eine Woche Urlaub dran gewesen), wurden nun viele Übungen und Prinzipien vermittelt, um sich in die Kunst des Buffonierens zu vertiefen.

Körperbewusstsein, Isolationsübungen, Gruppenübungen, Übungen zur Aufgabe des Individualismus‘ und des Aufgehens in der Gruppe, Übungen, einem Anführer zu Folgen, Übungen, um zusammen auf der Bühne in Improvisationen eine Idee gemeinsam zu entfalten, Bandenübungen, Bühnenpräsenz, Deformierungen, Hässlich sein, Menschen provozieren, auf die Bühne/in die Manege/zu den Toren der Stadt hereinkommen, gemeinsam Angst haben, verletzlich sein, Statusübungen, Kontakt mit dem Publikum, Kontakt untereinander, solidarisch sein, sich gegenseitig stützen, gemeinsam steigern, minimalistisch sein, extrem sein, die richtige Nuance treffen, Szenenvorschläge, Szenenentwicklung, Themen sammeln…

Die Köpfe rauchten, viele Emotionen wurden getriggert, der Körper war erschöpft, aber am Ende der 7 Tage hatten alle das Gefühl, unglaublich bereichert, mit einem dicken, neuen Werkzeugkoffer für die eigene und die gemeinsame Arbeit nach Hause zurückzukehren.

Auch die Begegnung mit Gerry war beeindruckend, der trotz seiner über 70 Jahre körperlich fitter herum hüpfte, als so manche Teilnehmerin. Es gab auch ein Treffen mit dem Shifting Sands Theater in Form eines gemeinsamen Abendessens, in dem die Teilnehmerinnen mehr über mehr als 40 Jahre Erfahrung im Theater Business und viele faszinierende Geschichten erfuhren.

P.S. Das Wörterbuch verrät:

Engl.:
buffoonery – Hanswurstiade, Harlekinade, Hanswursterei, Possen, Possenreißen
buffoon: Hanswurst, Blödmann, Clown, Kasper, Bajazzo, Witzbold
bouffant: füllig, aufgetürmt, bauschig
Ital:

buffoneria – Narretei, Clownerie, Hanswurstelei, Geschwätz
buffonaggine – Albernheit


Vom Fool, dem Archetyp – in Tintagel (UK) bei Franki Anderson

Vom Fool, dem Archetyp – bei Franki Anderson im renaturierten Steinbruch “Quarry la Pedrera” in Tintagel (UK)

Vom 03.06.2018 bis zum 09.06.2018 fand die zweite Schulung im Rahmen des Erasmus-plus-Projektes “Die Kraft des Humors – Von Narren und Buffonen” im Bereich der Erwachsenenbildung statt. Diesmal ging es in das schöne Cornwall nach Tintagel, unweit der verzaubernden, märchenhaften Küste, an der man unendliche Spaziergänge entlang der Felsenriffe und durch Schafherden unternehmen kann.

Es war einfach wunderschön dort und nicht zuletzt die Kulisse, aber auch die einmalige, faszinierende Art und Weise der Leitung durch Franki Anderson trug dazu bei, dass sich die 7 Tage Schulung diesmal für unsere 6 Mitarbeiterinnen nicht wie Arbeit, sondern wie Urlaub anfühlten, obwohl auch diese Woche intensiv war und den Teilnehmerinnen einen Koffer voller Inspiration, Ideen, neuer Übungen und Methoden mitgab.

Auch hier galt es zu verstehen, wer der Fool, zu Deutsch auch Narr genannt, eigentlich ist.
(Engl. Fool = Idiot, Narr, Dummkopf, Kasperle, Schildbürger, Depp, Trottel… s. dict.leo.org)

Auch hier gab es einen direkten Bezug zu uralten Spieltraditionen, zu den Narren und Gauklern, die auf den Marktplätzen mit den Sorgen, Ängsten, Freuden – kurzum den Themen der Menschen spielten.

Franki Anderson hat in vielen Jahren einen eigenen Ansatz zum Archetyp: Fool entwickelt und dazu auch Methoden der gewaltfreien Kommunikation, indigene Rituale und weitere Ansätze, die zu einem ehrlichen und offenen Miteinander beitragen, mit integriert.

Und das alles im Dienste des „Spielers“, denn es geht darum, das Hier und Jetzt zu erspüren wie z.B. die Gedanken und Themen meiner Mitmenschen und alles auszuspielen, was da ist.
Dazu bereitet sich der Spieler vor, bringt sich in die Verfassung, spielen zu können, den Alltagsmenschen in diesem Moment loszulassen und sich von Blockaden frei zu machen.
Er geht auf die Suche nach den inneren Stimmen, Masken, die in ihm tönen und die bei genauerem Betrachten archetypisch sind. Sie sind das, was wir alle teilen. So individuell wie manche Gefühle scheinen mögen, so gemeingültig sind sie, so sehr erkennen wir uns darin wieder und freuen uns, wenn sie auf der Bühne ohne Begrenzung ausgespielt werden.
Dazu gehört natürlich jede Menge Mut und Loslösung von Konventionen.

In der Fortbildung bei Franki wurden alle Schritte erlernt, vom Beginnen im Circle, des Sich-Mitteilens an die anderen, des Sprechens in der Ich-Form, des Erforschens, welche Stimmungen und Stimmen präsent sind, über das Zuhören, dem Erlauschen und Empfangen dessen, was die anderen mitteilen, des Beeing, des einfachen Daseins, bis hin zum Erwecken des Spielers, dem Bühnenspiel und dem Feedback geben.

Franki‘s Ansatz ist mehr als eine Theatermethode, es ist eine Lebenseinstellung. Sie ermöglicht, wichtige Themen zu finden und damit umzugehen, auch spielerisch umzugehen. Damit kommt sie oft in eine therapeutische Nähe, die über das Bühnenspiel hinausgeht, der eigene Fool kann bei der Burnoutprävention helfen oder aber dabei, in den Kontakt mit eigenen Themen zu kommen.
Aber Franki‘s Ansatz ist auch eine Liebeserklärung an den Frieden, er vermittelt Art und Weisen, wie wir uns in unserer Unterschiedlichkeit sehen und akzeptieren können. Wer möchte nicht gehört und gemocht werden? Wer wünscht sich nicht, an Stelle von negativer Kritik aufbauendes, konstruktives Feedback zu bekommen?

Ja, ein wichtiger Teil ist auch das Feedback-geben, sich (bzw. die Spieler) gegenseitig „zurückfüttern“ mit Rückmeldung. Und das heißt nicht, sich zu loben, auch wenn man das gesehene gar nicht mochte. Es heißt, zu benennen, was ich gesehen habe, wovon ich mir mehr wünsche, was mich berührt hat und damit dem Spieler zu ermöglichen, sich weiterzuentwickeln, tiefer in etwas einzutauchen, über das eigene Spiel zu lernen.

Schritt für Schritt erlernten die Teilnehmenden, sich von gesellschaftlichen Konventionen zu lösen, nicht in alltägliche Muster zu verfallen (z.B. durch gegenseitige Schuldzuweisungen, die im Alltag immer wieder vorkommen), Verletzungen der anderen zu erkennen und behutsam miteinander umzugehen.

Wenn alle Menschen ein Seminar bei Franki Anderson besuchen würden, würde das dazu beitragen, das gesamtgesellschaftliche Klima und die Kommunikation unter den Menschen zu verbessern. In Anbetracht dessen, wie sich die Gesellschaft entwickelt, wäre das auch dringend notwendig. Leider ist das praktisch nicht umzusetzen, aber ein Hoffnungsschimmer liegt nun in den Multiplikatoren wie z.B. unseren 6 Mitarbeiterinnen, die nun die Chance haben, die Ideen und auch Ansätze von Franki Anderson weiterzutragen und auch hierzulande zu verbreiten – sei es für das Bühnenspiel, sei es, um am gesellschaftlichen Miteinander zu arbeiten.

Wir sind gespannt, was hieraus in Zukunft noch entsteht!


Implementierung der Projektergebnisse am Wohnort

Eine Ende ist immer auch ein Anfang…

Auch wenn die zwei Fortbildungen in England nun abgeschlossen sind, soll es nicht vorbei ist. Um die Lernergebnisse nun in das eigene Berufsfeld zu integrieren, sind verschiedene Strategien vorgesehen.

1. Es entstanden gemeinsame „Aufführungen“, die in Form einer Projektvorstellungen in praktischen Beispielen gaben. So wurde das Erlernte verfestigt und angewendet.

Eine Aufführung ist bereits vorbei.

Am 23.03.2018 gab es im Leipziger neueröffneten Ost-Passage Theater bereits eine fulminante Buffonenshow. Eine weitere Fools-Show fand im Ost-Passage Theater statt.

2. Die Teilnehmerinnen sollen gemeinsam eine völlig neue Fortbildung erarbeiten, die sich aus dem Gelernten zusammensetzt, bzw. es in individueller Form adaptiert und ihnen ermöglicht, diese in ihr Angebot als Freischaffende im Bereich der Erwachsenenbildung (Theaterpädagogik, Humorfortbildungen, Coaching) aufzunehmen und so in direkter Form auch das Angebot des Theater Vision e.V.‘s zu erweitern.Bisher haben alle Teilnehmerinnen schon selbst Workshops gegeben und das Erlernte als Lehrende weitervermittelt.

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